IDEAL CITY, 2010
Audio-Video-Installation basierend auf nachgesprochenen Textzitaten aus:
King Camp Gillette: The Human Drift (Boston, 1894) / World Corporation. The birth of social and industrial science (Boston, 1910) / The People‘s Corporation (New York, 1924)
Holz, Druckkammerlautsprecher, Rückprojektionsplexi
Sprecher: Jeff Kollinger / Sound: Jan Faszbender
Dauer: 15 min

Beate Engl beschäftigt sich mit gesellschaftlich relevanten Themen, die sie in künstlerische Arbeiten von hoher formaler Komplexität übersetzt. Ihre zumeist ortspezifischen Werke, denen eine ausgedehnte Recherche vorausgeht, thematisieren soziale Prozesse im öffentlichen Raum, indem sie die existentielle Vernetzung der Menschen mit deren urbanem und wirtschaftlichem Umfeld kenntlich machen. Dabei begreift sie Raum als ein System von Setzungen und Zuordnungen, die es zu hinterfragen gilt.

Im Sinne des Begriffs der „Heterotopie“ von Michel Foucault interessiert sich die Künstlerin für Orte, die nach eigenen Regeln funktionieren und somit die Möglichkeit der Problematisierung gegebener Normen ermöglichen. Diese Räume reflektieren in besonderer Weise gesellschaftliche Verhältnisse, indem sie sie repräsentieren, negieren oder – wie „Ideal City“ – Gegenentwürfe zu bereits Bestehendem schaffen. In ihrer Videoinstallation setzt sich Beate Engl kritisch mit den Ideen von King Camp Gillette auseinander, seines Zeichens Erfinder der Wegwerf-Rasierklinge, zugleich aber auch Autor von Schriften wie „The Human Drift“ (1894) oder „World Corporation“ (1910). Darin verfolgte Gillette Ideen eines utopischen Sozialismus als Vision eines gerechten Idealstaates, der auf kapitalistischen Grundprinzipien einer Monopolgesellschaft fußte. Er ging davon aus, dass die durch Fortschritt ermöglichte Utopie einer Welt der Gleichheit und der moralischen Perfektion das Chaos und den Überlebenskampf seiner Zeit überwinden könnte. Dieser Idealstaat sollte in „Metropolis“ kulminieren, einer durch die Wasserkraft der Niagarafälle gespeisten Idealstadt für die Weltbevölkerung.

Beate Engl entführt den Betrachter in ihrer audiovisuellen Installation in diese utopische Welt, nicht ohne deren totalitäre Züge zu enthüllen und die Widersprüche der nach ökonomischen Kriterien entwickelten und gleichzeitig sozialistischen Weltstadt bloßzustellen. Indem die Bilder mit einer Tonspur aus nachgesprochenen Originalzitaten unterlegt werden, wird der agitatorische und propagandistische Duktus der Sprache entlarvt. Basis der visuellen Recherche ist Bildmaterial, das Beate Engl an den Niagarafällen aufgenommen hat. Immer wieder werden auch Illustrationen aus den Veröffentlichungen von Gillette, beispielsweise seine Pläne für die gigantischen Wohntürme, die die Menschheit aufnehmen sollten, eingeblendet. Die futuristische Architektur der 1970er Jahre am Ufer der heutigen Niagarafälle, die manches Mal aus dem Nebel der Wassermassen im Bild auftaucht, ist als Anspielung auf Metropolis zu sehen; das schwankende Schiff voller Touristen greift die Metapher der Bewohner des Utopiestaates bei Gillette auf.

Wie bereits bei anderen Arbeiten, in denen Beate Engl historisches Material in Sound-Installationen seziert, stellt sie in diesem poetischen und aufrüttelnden Bild-Ton-Essay einen subtilen Bezug zur Gegenwart her. Ist es beispielsweise bei ihrer Adaption der Rede von Rosa Luxemburg über „Die weltpolitische Lage“ der Bezug zum aktuellen Kunstmarkt, so wird hier vielmehr die Übertragung eines utopistischen, monopolistischen Modells auf eine globalisierte, vernetzte Gegenwart überprüft. Darüber hinaus lenkt die Künstlerin die Aufmerksamkeit auch auf die naturgewaltigen Niagarafälle als Attraktion des zeitgenössischen Massentourismus – gleichzeitig stehen diese spätestens seit der Weltausstellung 1901 im Nahe gelegenen Buffalo aber auch für die zwiespältige Faszination des technischen Fortschritts und die wirtschaftliche Nutzung von Wasserkraft zur Gewinnung von Energie. Auf diese Weise verknüpft Beate Engl dezidiert Überlegungen zu Organisation und Gestaltung von (natürlichem) Lebenssraum mit den Auswirkungen der Industrialisierung sowie den Folgen kommerzieller und touristischer Ausbeutung.
(Text: Patricia Drück, aus dem Katalog zur Ausstellung).

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Beate Engl
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