KOLPORTEUR, 2017  
90 x 150 x 90 cm
2-teilige Drehorgel-Skulptur zur musikalischen Übertragung von sechs tagesaktuellen
Nachrichten sowie luftdruckgesteuerte Stanzapparatur
„Parasympathikus“, RischArt_Projekt, Kunstareal München, Südwiese / Alte Pinakothek

Als Kolporteur muss man früh aufstehen! Und in der Tat beginnen die täglichen Vorbereitungen für den von Beate Engl (*1973/lebt in München und Prackenbach) eigens für das Ausstellungsprojekt Parasympathikus konzipierten Kolporteur früh am Morgen mit der Auswahl und Einspeisung der aktuellen Nachrichten. Denn jeden Tag während der Ausstellung wird Engls Audioskulptur in Form eines römischen Streitwagens unterwegs im Viertel um das Museumsareal sein, um die Nachrichten des Tages zu verbreiten. Und wie die früheren Stadtschreier mit einem gewissen Singsang ihre Botschaften durch die Stadt trugen, nehmen auch die Nachrichten des Kolporteurs musikalische Züge an. Mithilfe einer luftdruckgesteuerten Stanzapparatur werden die Nachrichten in Noten übertragen, die durch die eigentlich veraltete Mechanik einer Drehorgel übertragen werden. Der langsame, altmodische Lowtech des Leierkastens steht im krassen Widerspruch zum schnelllebigen Hightech des digitalen Zeitalters. Auf die Spitze getrieben wird dieser technologische Widersinn durch das auf schwarze Folie gestanzte Notenband, das über roten Grund gekurbelt wird und damit den Anschein eines LED-Laufbands erzeugt.

Alles nur Show und Effekt? Als Meisterschülerin von Olaf Metzel an der Münchner Akademie der Bildenden Künste verwundert es nicht, dass Beate Engl offensichtlich einen Hang zur politischen bzw. gesellschaftskritischen Agitation hat. Wie und welche Nachrichten gesendet werden, ist eine Frage der politischen Einstellung des Vermittlers, sei es eines Zeitungverlags oder eines Fernseh- bzw. Rundfunksenders. Die äußere Form des Kolporteurs als Streitwagen unterstreicht das Militärische: Orgelpfeifen als Kanonenrohe, der Nachrichtensender als Kriegsmaschine. Auch spricht man neuerdings in verschiedenen Ländern von einem Krieg gegen die freie Presse. Und gerade in der heutigen Zeit, in der Fake News bzw. Alternativfakten an der Tagesordnung sind – und dies nicht nur von der unseriösen Boulevardpresse oder im Internet, sondern inzwischen auch von den Pressekorps wichtiger Staatsmänner sowohl im Osten als auch im Westen –, ist unser Vertrauen in die Nachrichten fast irreparabel beschädigt.

Ins Absurde geführt wird das Ganze durch die musikalische Umsetzung der Nachrichten. Kann man News aus einem Leierkasten überhaupt ernst nehmen? Die Rolle der Musik bei Engls Kolporteur hat allerdings einen interessanten historischen Bezug. Denn um sich über den allgemeinen Straßenlärm zu erheben, verpackte der mittelalterliche Stadtschreier seine Botschaften in kurze Melodien, die dadurch einfacher zu merken waren. Der Singsang als subversive Manipulation der Massen. Oder vielleicht macht die Musik es einfach ein wenig leichter, den ganzen Bullshit zu schlucken, den man täglich in der Presse anhören muss.

Text: Gérard A. Goodrow (aus dem Katalog zur Ausstellung)
Beate Engl
Beate Engl